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Ozan Zakariya Keskinkılıç ist Politikwissenschaftler, freier Autor und Lyriker. In seiner Arbeit beschäftigt er sich u.a. mit anti-muslimischen Rassismus und dem Leben muslimischer Menschen in Deutschland. Wir haben ihn eingeladen, Texte zu fünf von ihm ausgewählten Dingen zu schreiben und einzusprechen. Daraus ist eine Geschichte zwischen Autobiografischem und Fiktion aus fünf Kapiteln entstanden. Sie eröffnen weitere Perspektiven auf die Dinge, aber auch auf Gefühle und Erinnerungen, die sie in Menschen wecken können.
Audio: Nachts im MEK
Gelesen von Ozan Zakariya Keskinkılıç
Um 00:01 Uhr krabbele ich aus meinem Versteck. Nachts ist es am schönsten im Museum, nachts hüpfen Schatten und Geheimnisse durch die Flure, da poltert es in den Vitrinen. Nacheinander strecke ich das linke und das rechte Bein über den kalten Marmorboden, dehne mich, spreche mein Bismillah und springe von einem Gegenstand zum nächsten. Groß ist der Pilavdeckel, wie ein Helm sieht er aus, graviert aus verzinntem Kupfer. „Ist ein Reisdeckel noch ein Reisdeckel, wenn er keinen Reis mehr deckt?”, fragte ich heute früh meine Mutter. Sie wusste nicht so recht, was darauf zu antworten ist. Schließlich hat auch sie Deckel in der Küche, die manchmal Tage, manchmal Wochen vor sich hinvegetieren. „Aber ein Museum ist ja keine Küche“, erinnere ich mich an ihre Worte, während ich die Blätter und Ranken inspiziere, die sorgsam in das schimmernde Metall geschnitten sind, auch Blümchen auf tropfenförmigen Verzierungen. Horizontal umlaufen den Deckel Sätze in arabischer Schrift. Wieder spreche ich Bismillah und öffne meinen Rucksack. Ich packe aus: eine Packung Reis, eine Flasche Olivenöl, eine große Zwiebel, zwei Knoblauchzehen, Gemüsebrühe, Salz und Pfeffer. Aus der Hosentasche ziehe ich eine Zimtstange. Und Lorbeerblätter, Kreuzkümmel, Kurkuma, Safran, Rosinen, Mandeln und Pinienkerne. Die Gerüche wecken Erinnerungen. Ich zünde den Campingkocher an, der das letzte Mal in den Sommerferien auf der Autofahrt in die Türkei zum Einsatz kam. Auf Raststätten, in Parks, an Grenzübergängen. Und wieder auf dem Weg zurück nach Almanya; die Koffer gefüllt mit Paprikamark, mit getrockneten Auberginen und Maulbeeren. Kochtopf und Teller beruhigen nicht nur den Magen, auch das Herz, wenn es vermisst. Ich wasche den Reis, dünste Zwiebeln und Knoblauch glasig, brate den Reis an, gieße die Brühe auf, füge die Gewürze hinzu, lasse alles 15 Minuten köcheln und decke den Mitternachtssnack ab. Jetzt ist der Pilavdeckel wieder ein Pilavdeckel. „Aber ist ein Museum noch ein Museum, wenn es darin duftet wie aus Nenes Küche?“, werde ich meine Mutter fragen.
Ich erinnere mich, wenn meine Großmutter kocht, läuft im Hintergrund Musik. Amca spielt Saz, Dede singt Fairuz. Und Leila, die Nachbarstochter, stößt dazu mit ihrer Flöte. Die Zurna ist aus Pflaumenholz, der Ton ist schrill. Leila will auf Hochzeiten spielen. Sie nimmt Unterricht und lernt fleißig Atemtechniken. Sie bläst Luft durch das Instrument, ohne den Klang zu unterbrechen. Sie spielt zu "Damat Halayı", der Tanz des Bräutigams. Und "Erik Dalı Gevrektir", Der Zweig des Pflaumenbaums ist zerbrechlich. Und "All the Single Ladies (Put a Ring on It)" von Beyoncé, da flippen alle aus und kämpfen um den Brautstrauß. Leila hätte die Zurna hier gefallen. Sie ist 32cm lang, ein Durchmesser von 3cm. 6 Grifflöcher sind schräg nach oben eingebrannt. Sie stammt aus Bosnien. Ich frage mich, wann sie hergestellt wurde, wann sie wie auf welche Weise das Land verließ, was die Zurna weiß über den Genozid an den Bosniak:innen mitten in Europa, gar nicht so lange her. Wem hat das Instrument gehört, wessen Atem pfiff durch das Rohr, ob noch etwas übrig ist? Ich frage mich, auf wessen Hochzeiten die Zurna spielte, welche Instrumente sie begleitete, wie die Menschen tanzten, welche Lieder sie sangen und wie sie Halay zu Leilas Beyoncé-Interpretation getanzt hätten.
Ich spiele auf der Zurna, deren schriller Klang durch den Raum hallt und sich in allen Ecken verfängt. Es öffnet sich eine dritte Vitrine: Aus rotem Stoff ist die Korantasche, durchwirkt mit Gold- und Silberfäden. Stickereien, grün, blau, rosa, verzieren den Stoff. Ich greife nach der Tasche und tausche sie aus mit meinem Jutebeutel, mit dem ich sonst durch die Berliner U-Bahnen geistere. Auf meiner Tasche steht in arabischer Schrift geschrieben: Dieser Text hat keinen anderen Zweck, als Angst bei denen zu schüren, die sich vor der arabischen Sprache fürchten. Ich erlaube mir einen Spaß, es ist ein Joke. Dass es aber wirklich Menschen gibt, die das Arabische fürchten, ja Muslim:innen hassen ist kein Joke. Sie glauben, der Koran ist eine Gruselgeschichte und der Islam ein Dämon. Das ist Quatsch. Der Koran ist, wenn überhaupt, eine Gedichtsammlung, eine sehr schöne sogar und Gott ist ein Dichter. Er lädt die Leser:innen ein in sein Paradies, “durcheilt von Bächen, darin werden sie ewig verweilen”. Auch die Welt ist eines seiner Gedichte, und die Wälder und die Tiere und die Berge, hat Dede gesagt. Über Gottes Gedichte hat auch Goethe gedichtet, hat Dede gesagt, im Deutschunterricht hat mir das niemand verraten.
“Ob der Koran von Ewigkeit sei?
Darnach frag’ ich nicht!
Ob der Koran geschaffen sei?
Das weiß ich nicht! Daß er das Buch der Bücher sei,;
Glaub’ ich aus Mosleminen-Pflicht”,
zitierte Dede aus dem West-östlichen Divan.
Ein Gedicht muss geteilt werden, sagte Dede. Und was eignet sich besser als eine Korantasche wie diese hier, um Goethes Divan weiter zu tragen, damit auch das Wort, wie der Mensch wandert.
Ich erinnere mich, Nene und ich kamen vom Markt, die Hände voller Einkaufstüten. Şiddetli yağmur yağdı, es hat geregnet wie ein Wolkenbruch. In einer schmalen Gasse suchten wir Schutz unter einer Markise, neben uns war ein Mann auf dem Boden gekniet, klitschnass, von den Haaren tropfte es auf Nase und Mund, in seinen Händen lag eine Bettelschüssel aus Holz, geformt wie eine breite, flache Lippe. Der Mann schwieg, aber die Schüssel sprach. Sie sagte: „Nicht darin besteht die Frömmigkeit, dass ihr eure Gesichter gegen Osten oder Westen wendet. Frömmigkeit besteht vielmehr darin, dass man an Allah glaubt und an den Jüngsten Tag und an die Engel und das Buch und die Propheten und sein Geld, obwohl man es liebt, den Verwandten und den Waisen und den Bedürftigen und dem Reisenden und den Bittenden gibt.“ Hast du gehört, fragte Nene. Hast du gehört, was die hölzerne Lippe in der Hand des Mannes spricht? Ja, antwortete ich. Es war ein Koranvers. Er bedeutet, dass das Spenden auch ein Gottesdienst ist. Ich griff in meine Hosentasche und legte Münzen auf die Zunge. Und Nene reichte dem Mann Brot und Früchte aus der Tasche. Teilen bedeutet auch, einander zu sehen, sagte Nene und sprach den Mann an. “Wollen wir gemeinsam essen und dem Regen lauschen?”, fragte sie. “Barak Allahu fikum”, antwortete der Mann, “Gott segne euch”.
Der Regen ließ nach. Nene und ich richteten uns auf. “Ich habe etwas für dich”, sagte der Mann. Er griff in seine Tasche und reichte mir eine Halskette, ein Tawiz, einen Talisman. Ich erinnere mich an den schwarzen Stoff, in den ein Stück Pergament eingenäht war. “Ein Koranvers ist darin”, sagte er, “der Tawiz soll vor Krankheit, vor dem Bösen schützen. Er soll segnen, er soll heilen“. “Macht er auch Mut?", fragte ich. Ich hatte Angst, in die Schule zu gehen. Angst vor der Matheprüfung, Angst vor dem Deutschunterricht. Angst vor den Blicken, den bösen Zungen. Jeden Tag trug ich den Talisman, ich fühlte ihn wie einen Zauber um meinen Körper gehüllt. Manchmal träumte ich, er verlieh mir Superkräfte: Fliegen wäre schön, oder Teleportieren, dann könnte ich, wann ich wollte, über alle Mauern und Ländergrenzen hindurch, ich könnte Nene und Dede besuchen, ich würde auf dem Feigenbaum im Garten landen. Die Superkräfte sind nie gekommen, aber die Träume habe ich aufgeschrieben. Hier im Museum habe ich ein neues Herz gefunden für den Text. In der Vitrine sehe ich einen rechteckigen, metallischen Behälter, besetzt mit Edelsteinen und farbigen Glassteinen. In der Mitte ein großer violetter Stein, umgeben von kleinen türkisen und roten Steinen. Auch die Ecken und Ränder sind verziert. Das Amulett funkelt, die Perlen klimpern. Ich lege den Traum hinein, schließe den Behälter und alle Steine beginnen zu leuchten. Das Metall vibriert, ich lege es um den Hals und ein starker Wind weht durch den Raum, hebt mich mit allen Dingen aus den Vitrinen in den Himmel. Der Wind trägt uns bis auf die Krone des Feigenbaums im Garten meiner Großeltern, die Stoffe und Taschen, die Schriftrollen und Kannen, die Teller und Flöten liegen auf den Ästen verteilt. Nene schaut mich erschrocken aus dem Fenster an, wie ich dort auf der Baumkrone sitze und ruft mir zu: “Endlich bist du zurück, mein Sohn. Aber sag, was sind das für Dinge, die du uns aus Almanya mitgebracht hast?”
Ozan Zakariya Keskinkılıç schreibt sowohl wissenschaftliche Texten als auch Kolumnen, Essays, Hörstücke und Gedichte. 2023 erschien sein vielbeachtetes Buch „Muslimaniac. Die Karriere eines Feindbildes“ im Verbrecher Verlag. 2022 debütierte er mit dem Gedichtband „Prinzenbad“ im Elif Verlag, 2024 wurde er für den Heidelberger Clemens-Brentano-Preis und den Dresdner Lyrikpreis nominiert. Seine Texte werden u.a. ins Englische, Französische, Arabische, Kasachische und Tschechische übersetzt. Er lebt in Berlin und arbeitet derzeit an einem Roman.
Weiterführende Links
Online-Präsentation: Spuren europäischer Muslim*innen in der Sammlung des MEK
Muslimische Sichtbarkeit im Museum
Ausstellung
Pressemitteilung