21.09.2020
Gipsformerei - Kunstmanufaktur seit 1819
Die 1819 gegründete Gipsformerei beherbergt historische Formen und Modelle von über 7.000 Bildwerken von der Vor- und Frühgeschichte bis ins 20. Jahrhundert, die aus nahezu allen Sammlungen der Staatlichen Museen zu Berlin und aus renommierten Institutionen im In- und Ausland stammen. Nachdem dieser Bestand lange als reine Gebrauchssammlung wahrgenommen wurde, rückt heute sein historischer Wert ins Bewusstsein. Die Ernst von Siemens Kunststiftung ermöglicht nun maßgeblich den ersten Schritt einer wissenschaftlichen und konservatorischen Erschließung dieser außergewöhnlichen Sammlung.
Historische Abgüsse geben Auskunft über die Geschichte und den Kanon unserer Museen, die politischen Austauschbeziehungen internationaler Institutionen sowie die Biografien und Transfers musealer Sammlungsobjekte. Sie sind Zeugnisse traditioneller Guss- und Formenbautechniken, und sie konservieren verlorene Werke der Kunst- und Kulturgeschichte über deren Lebenszeit hinaus. Der Fokus des Pilotprojekts liegt in diesem Sinne auf denjenigen Formen und Modellen, denen verschollene, zerstörte oder beschädigte Kunstwerke zugrunde liegen. Ein Großteil dieser Werke wurde im Zweiten Weltkrieg vernichtet oder als Kriegsbeute außer Landes gebracht; andere wurden über Jahre hinweg durch Witterungseinflüsse beeinträchtigt oder aus anderen Gründen beschädigt. Dank der historischen Abformungen, die ab dem mittleren 19. Jahrhundert im großen Stile stattfanden, haben sich zahlreiche dieser Werke in Gips erhalten und können so für die Nachwelt gesichert werden.
Mit der großzügigen Förderung der Ernst von Siemens Kunststiftung kann dieser für die Staatlichen Museen zu Berlin besonders bedeutungsvolle Teilbestand nun aufarbeitet werden. Rund 300 Inventarnummern stehen im Zentrum des auf drei Jahre angelegten Forschungsprojekts, das von einem interdisziplinären Team bearbeitet wird, dem eine Kunsthistorikerin, eine Restauratorin, Gipskunstformer*innen und Skulpturenmaler*innen angehören. Mit dem Projekt wird das Fundament einer Gesamtbestandserfassung bereitet und der erste Teil eines wissenschaftlichen Bestandskatalogs vorgelegt. Dabei werden nicht nur Grundlagen für die weiterführende Erforschung verschollener Kunstwerke gelegt, sondern auch Erkenntnisse zur Geschichte der Gipsformerei, zu Technik und Handwerk historischer Abformungen und zur Bedeutung und Wertigkeit von Abgüssen im Wandel der Zeit gewonnen.
„Im Namen der Staatlichen Museen zu Berlin danke ich der Ernst von Siemens Kunststiftung sehr für die großzügige Zuwendung“, so Christina Haak, Stellvertretende Generaldirektorin der Staatlichen Museen zu Berlin. „Die Förderwürdigkeit des Projekts verdeutlicht das große Potenzial der Gipsformerei und die Notwendigkeit eines Umdenkens, im Zuge dessen auch Formen und Modelle als historische Sammlungsobjekte Anerkennung finden.“ „Die beiden großen Säulen der Gipsformerei – die Produktion und die Sammlung – finden in diesem Projekt auf ideale Weise zusammen“, erläutert Miguel Helfrich, Leiter der Gipsformerei. „In exemplarischer Weise wird das Projekt historisches Wissen bergen und Erkenntnisse zu alten Handwerkstechniken generieren, auf deren Grundlage wir den Formereibetrieb in die Zukunft führen.“ Veronika Tocha, die die Projektleitung innehat, fügt hinzu: „Mit ‚Nah am Leben. 200 Jahre Gipsformerei‘ haben wir 2019/20 den Sammlungsbestand der Gipsformerei erstmals ins Zentrum einer großen Publikumsausstellung gerückt. Die Förderung durch die Ernst von Siemens Kunststiftung ermöglicht uns nun die notwendige Grundlagenforschung und die Erprobung und Einführung wissenschaftlicher und konservatorischer Standards vor Ort.“
„Eine Dokumentation des historischen Bestands der Berliner Gipsformerei ist kunsthistorisch von unschätzbarem Wert, sind doch die über die Formen erhaltenen Kenntnisse von beschädigten oder gar verlorenen Kunstwerken auf diese Art und Weise einmalig“, freut sich Martin Hoernes, Generalsekretär der Ernst von Siemens Kunststiftung. „Den weitreichenden kultur- wie auch wirtschaftshistorischen Kosmos der Museumsmanufaktur, bestehend aus handwerklicher Produktion, Nachfragemarkt und Verkauf bald in der Bestandserfassung vereint zu sehen, ist für die Forschung ebenfalls ein wichtiges Anliegen.“
Zu den im Projekt untersuchten Objekten gehören Formen und Modelle nach Werken aus der Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst, der Antikensammlung, der Nationalgalerie, dem Ägyptischen Museum und Papyrussammlung, dem Museum für Vor- und Frühgeschichte, dem Ethnologischen Museum, dem Museum für Asiatische Kunst der Staatlichen Museen zu Berlin sowie aus externen Museumssammlungen. Aufgrund der Heterogenität der Sammelgebiete und Objektarten bildet das Projekt einen Querschnitt durch den Gesamtbestand der Gipsformerei. Denn von Verlusten und Beschädigungen betroffen sind ebenso berühmte Portraitbüsten der Frührenaissance, klassizistische Statuetten oder griechische Kleinplastik wie auch englische Plaketten, altägyptisches Gerät, attische Weihreliefs, byzantinische Lampen, javanische Buddhaköpfe, aztekische Kalendersteine oder trojanische Altertümer – um nur einige Beispiele zu nennen.