Das auf drei Jahre angelegte Forschungsprojekt widmet sich der systematischen Erschließung einer bislang kaum bearbeiteten Sammlung von mehreren hundert Objekten und Fotografien zur materiellen Kultur der Krimtatar*innen. Als eine der größten Sammlungen dieser Art außerhalb Russlands bietet sie einzigartige Einblicke in krimtatarisches Alltagsleben und kulturelle Ausdrucksformen – von der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis in die 1990er Jahre. Ziel ist es, die Herkunft, Nutzungskontexte und Sammlungsgeschichte der Artefakte aufzuarbeiten und im Dialog mit krimtatarischen Akteur*innen Perspektiven auf ein durch Kolonialismus, Krieg und Exil gefährdetes kulturelles Erbe zu entwickeln.
Das Museum Europäischer Kulturen (MEK) besitzt mehrere hundert Objekte und Fotografien zur materiellen Kultur und Kulturgeschichte der Krimtatar*innen. Diese Sammlung stellt die größte ihrer Art in Zentral- und Westeuropa dar. Viele der Artefakte gelangten bereits vor rund hundert Jahren nach Berlin und dokumentieren ein außerordentlich breites Spektrum des Alltagslebens: von Haushaltsgeräten und Kleidungsstücken über kunsthandwerkliche Erzeugnisse bis hin zu religiösen und festtäglichen Objekten. Ungeachtet dieser Bandbreite und ihrer historischen Bedeutung hat bislang weder eine systematische wissenschaftliche Aufarbeitung noch eine öffentliche Präsentation dieser Bestände stattgefunden.
Seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim im Jahr 2014 und verstärkt seit der russischen Vollinvasion der Ukraine wird das kulturelle Erbe der Krimtatar*innen zunehmend zugunsten des Narrativs einer „russischen Krim“ marginalisiert. Während Bibliotheken, Archive und Museen auf der Halbinsel nur noch eingeschränkt zugänglich sind, werden demokratische Grundrechte und die verfassungsmäßige kulturelle Autonomie der Krimtatar*innen geschleift. Angesichts der russischen Besatzungspolitik auf der Krim und der damit einhergehenden Einschränkung krimtatarischer Kulturinstitutionen kommt Museen und ihren Sammlungen außerhalb der Region eine besondere Bedeutung zu: Sie bieten Räume der unabhängigen Forschung, Dokumentation und Sichtbarmachung.
Das MEK plant, seine krimtatarische Sammlung in den nächsten Jahren systematisch zu erschließen, zu kontextualisieren und für unterschiedliche Zielgruppen sichtbar zu machen. So sollen die kulturanthropologischen und historischen Kontexte der versammelten Objekte sowie die Umstände des Objekterwerbs aufgearbeitet werden. Diese Informationen werden Forschenden, krimtatarischen Diaspora-Communitys und einer interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. In einer internationalen, politisch aufgeladenen Situation ist es von fundamentaler Bedeutung, eine unabhängige Dokumentations- und Vermittlungsplattform zu schaffen, die nicht den russischen staatlichen Narrativen unterliegt. Dies wird im engen Austausch mit Expert*innen aus der Ukraine sowie aus dem Exil stattfinden.
Die wissenschaftliche Aufarbeitung dient zugleich als Basis für eine künftige Präsentation der Artefakte. Im Zentrum steht dabei die Frage nach der Bedeutung der historischen Objekte für krimtatarische Identität in Zeiten von Besatzung, Krieg und Exil. In diesem Zusammenhang sollen auch zeitgenössische und künstlerische Positionen von Krimtatar*innen eingebunden werden.
Ein zentrales Anliegen des Projekts ist die Zusammenarbeit mit Museen, Universitäten und zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Ukraine und in der krimtatarischen Diaspora in Deutschland und im europäischem Ausland. Diese Vernetzung ist notwendig, um lokale Expertisen einzubeziehen und die historischen Sammlungsbestände auf ihre fortgesetzte Relevanz für ein gegenwärtiges kulturelles Selbstverständnis zu befragen.
Das MEK möchte seine Sammlung insofern als eine Art Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufarbeiten: Es rückt nicht nur historische Artefakte in den Fokus, sondern fragt, wie diese Objekte heute von krimtatarischen Communitys inner- und außerhalb der Ukraine interpretiert werden. Das Projekt versteht sich damit auch als Beitrag gegen die historische und aktuelle Marginalisierung krimtatarischer Perspektiven auf dem Weg einer zunehmend geforderten Dekolonisierung der ukrainischen Geschichte.