Reklame für Autoreifen, Tierfutter und Kaffeehäuser als Spiegel und Motor kolonialimperialistischer Weltsicht – wie funktioniert das? In einem Forschungsprojekt hat die Kunstbibliothek anhand ihrer Frühen Plakate erstmals eine ganze Bestandsgruppe systematisch mit Blick auf kolonial geprägte und rassistische Inhalte untersucht. Die Ergebnisse sind dauerhaft und kostenlos online verfügbar.
Das Forschungsprojekt „Koloniale Kontexte im Frühen Plakat, 1854–1914“ entstand im Zuge einer Digitalisierung der 3.800 ältesten europäischen und US-amerikanischen Plakate in der Sammlung Grafikdesign der Kunstbibliothek, die 2021/22 die vollständige Erfassung dieser Werkgruppe ermöglichte. Die Werbedrucke dokumentieren nicht nur die Anfänge der Plakatkunst in Europa und den USA, sondern spiegeln auch die Zeit, aus der sie stammen: eine Epoche der Industrialisierung, die mit Innovation und Liberalisierung ebenso einherging wie mit kolonialistischer Expansion und patriarchalischen Strukturen. In den Bildwelten der Reklame stecken ideologische Perspektiven, soziale Verhältnisse und gesellschaftliche Werte, die wir heute kritisch betrachten.
Deklariertes Ziel des Digitalisierungsprojektes war, alle Daten und Bilder im Internet zu veröffentlichen. Die neu gewonnene Übersicht legte jedoch offen, dass zahlreiche Plakate aufgrund diskriminierender Motive oder verborgener Narrative nicht ohne Kontextualisierung online gestellt werden konnten. Aus dieser Erkenntnis wurde das dekoloniale Sammlungsprojekt geboren: Der gesamte Bestand wurde systematisch auf koloniale Zusammenhänge geprüft – mit dem Ergebnis, dass etwa jedes zehnte Plakat solche Bezüge aufweist: von Produktwerbung für Kakao, Tee und andere „Kolonialwaren“ über Zootiere und Tourismus bis hin zu Kulturreklame für Expeditionsberichte, Völkerschauen oder Kolonialausstellungen. Ein dreiköpfiges wissenschaftliches Team hat daraufhin 240 repräsentative Plakate ausgewählt und eingehend analysiert. Dabei spielten neben bildwissenschaftlichen auch ideologiekritische sowie zeit- und wirtschaftshistorische Aspekte eine Rolle. Folgende Fragen bildeten einen Leitfaden:
In der Summe der 240 Plakatanalysen machen die Forschungsergebnisse anschaulich, wie eng Kolonialismus, Konsum und Werbung im Zeitalter der frühen Industrialisierung miteinander verwoben waren. Sie zeigen, dass historische Werbebilder – als Spiegel einer neuen Konsumkultur und globalen Warenpalette – nicht nur Orte, Ereignisse und Akteure des kolonialistischen Geschehens aufrufen, sondern mit ihren bunten Motiven auch Orientalismen, Exotismen und rassistische Stereotype im Alltag und Straßenbild ihrer Entstehungsländer einführen. Mit einprägsamen Bildern, einfacher Sprache und massenhafter Reproduktion trugen sie zur Verbreitung und Verfestigung eines bis heute fortwirkenden eurozentrischen und hierarchisierenden Weltbilds bei.
Um verschiedene inhaltliche Zugänge zum Thema zu ermöglichen, werden die Ergebnisse in drei untereinander verlinkten Teilen publiziert:
Die Bereitstellung der Ergebnisse im kostenlosen und dauerhaft zugänglichen Online-Format wurde bewusst gewählt, um eine breite Öffentlichkeit zu erreichen. Ziel des Projekts ist, diskriminierungskritische und dekoloniale Perspektiven auf eine Sammlung zu eröffnen und Forschungsvorhaben ähnlicher Art anzuregen. Das Medium Plakat – das bis heute unseren Alltag prägt – ist besonders geeignet dazu, Sehgewohnheiten des Ausblendens ausbeuterischer Bildformeln zu hinterfragen und aufzubrechen.
Zum Abschluss des Forschungsprojekts veranstaltet die Kunstbibliothek gemeinsam mit dem Deutschen Historischen Museum das Symposium „Sture Muster: Kolonialnarrative in der Bildwerbung“ am Kulturforum. Es widmet sich der Frage, wie es mit den um 1900 entstandenen Bildmustern im 20. und 21. Jahrhundert weiterging. Drei Stadttouren und fünfzehn Vorträge analysieren internationale Evidenzen kolonialer Kontexte in bildbasierten Werbemedien der 1860er- bis 2020er-Jahre, von „Stereotypografie“ und Exotismen in KI-Bildern über die „Orient“-Vermarktung von Lebensmitteln, Reisen oder Zimmerpflanzen bis hin zur Instrumentalisierung schwarzer Körper. Frappierende Kontinuitäten werden sichtbar: Viele Stereotypen werden seit mehr als hundert Jahren perpetuiert.
Wissenschaftliches Team: Dr. Ibou Coulibaly Diop, Dr. Kristina Lowis, Dr. Christina Thomson
Projektleitung: Dr. Christina Thomson
Sammlung: Sammlung Grafikdesign, Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin
Projektträger: Staatliche Museen zu Berlin
Laufzeit: 1. Februar 2022 bis 31. Dezember 2024
Onlinepräsenz: verfügbar seit 10. November 2025