Werbemedien spielen eine zentrale Rolle in der Prägung visueller Denkmuster. Ein gefördertes Projekt ermöglichte 2021/22 erstmals die digitale Bestandsaufnahme aller Plakate und Plakatentwürfe aus den Jahren 1840 bis 1914 in der Kunstbibliothek. Als Bildquellen einer von Industrialisierung, medialen Revolutionen und kolonialistischer Weltsicht geprägten Epoche stehen sie Forscher*innen nun online zur Verfügung.
Rund 3800 frühe Plakate aus der Sammlung Grafikdesign der Kunstbibliothek wurden insgesamt erfasst, gescannt, transkribiert und verschlagwortet. Damit ist die Bestandsgruppe Frühe Plakate 1840–1914 nun vollständig auf Sammlungen Online, der digitalen Sammlungsplattform der Staatlichen Museen zu Berlin, einsehbar. Sie bietet neben der neuen Stichwortsuche auch kurze Texte zu etwa 1500 Plakaten sowie 3200 rechtefreie Bilddateien, die zum Download bereitstehen. Vertreten sind fast 1000 Gestalter*innen aus 16 europäischen Ländern sowie den USA. In dieser internationalen Vielfalt eröffnen die Plakate ein Panorama der visuellen Kommunikation: Sie illustrieren Design-, Reklame- und Druckgeschichte am Übergang von Historismus und Jugendstil zum Sachplakat, stellen zugleich aber auch wertvolle Dokumente der Zeit- und Kulturgeschichte dar.
Das Digitalisierungsprojekt wurde durch die Deutsche Digitale Bibliothek im Rahmen des von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) geförderten Programms NEUSTART KULTUR ermöglicht.
Zu den Preziosen des Bestands gehören Klassiker der frühen Plakatkunst aus Frankreich, etwa von Henri de Toulouse-Lautrec, Jules Cheret, Eugène Grasset oder Adolphe Crespin, sowie aus England und den USA, von Edward Penfield, Aubrey Beardsley, William Bradley, Ethel Reed und anderen. Walter Crane und Henry van de Velde stehen für die Arts and Crafts Bewegung in England und Belgien, während Hendrik Petrus Berlage, Bruno Paul und Peter Behrens als Wegbereiter einer neusachlichen Ästhetik in Holland und Deutschland dabei sind. Plakate aus Italien, der Schweiz, Schweden, Tschechien und anderen europäischen Ländern illustrieren, wie international sich gestalterische Trends verbreiteten. Gut zwei Drittel der Frühen Plakate sind deutschen Ursprungs, viele davon haben einen Bezug zur Berlin. Die Verlagsanstalt Hollerbaum & Schmidt, die über 1000 der Plakate druckte, arbeitete hier mit einem Stab moderner Grafiker*innen, darunter Lucian Bernhard, Edmund Edel, Hans Rudi Erdt, Julius Gipkens, Ludwig Hohlwein, Ilse Schütz-Schur und Julius Klinger. Wie nahe Kunst und Werbegrafik vor 1914 beieinanderlagen, zeigt sich in vielen Frühen Plakaten. Neben Toulouse-Lautrec waren beispielsweise auch Henri Evenepoel, Georg Tappert, Ernst-Ludwig Kirchner und Max Pechstein vorwiegend in der freien Kunst tätig.
Die durch das Projekt ermöglichte Bestandsaufnahme ergab erstmals eine konkrete Statistik zum Geschlechterverhältnis unter den Entwerfenden: von 997 Namen sind nur 40 weiblich. Die von Frauen gestalteten Plakate sind als separate Kollektion online aufrufbar und werden damit betont sichtbar gemacht. Mit Arbeiten von Marguerite Burnat-Provins, Grete Gross, Aenne Koken, Florence Lundborg, Lika Marowska, Blanche McManus, Ethel Reed, Julie Wolfthorn und weiteren eröffnet sich ein internationales Spektrum. Zusätzlich stellt die im Rahmen des Projekts erstellte Online-Ausstellung „Verklärt, begehrt, vergessen“ in der Deutschen Digitalen Bibliothek ausgewählte Plakatkünstlerinnen vor und beleuchtet die vielen Facetten der Repräsentation von Frauen in der Plakatkunst ihrer Zeit.
Auch über Herstellungs- und Druckprozesse lässt sich am Konvolut der Frühen Plakate viel ablesen. Rund zwanzig Plakate aus den Jahren vor 1860 illustrieren die Anfänge des Bildplakats, in denen noch Kupferstich, Buchdruck und handkolorierte Elemente zum Einsatz kommen. Ab 1870, mit zunehmender Automatisierung lithografischer Druckverfahren, beginnt die Zeit des Farbdrucks in hohen Auflagen. 15 Originalentwürfe – etwa von Otto Eckmann für „Jugend“, August Hajduk für Kadewe oder Ferdinand Schultz-Wettel für Syndetikon – lassen das handgezeichnete oder -gemalte Unikate als Vorlage erkennen. Dubletten, Varianten und Drucke „avant la lettre“ (vor der Schrift) werden bewusst alle mit online gestellt: In ihnen zeigen sich unterschiedliche Druckstufen, Motiv- und Farbvariationen sowie Papiere. Da sämtliche auf den Plakaten vermerkten Angaben erfasst wurden, lässt sich auch nach Druckereien oder Verlagen filtern. Auf diese Weise ergeben sich faszinierende Gruppierungen.
Von „Narcoti-Cure“ bis zur Autofeder-Schutzgamasche: Das industrialisierte 19. Jahrhundert brachte zahllose Erfindungen und neue Produkte auf den Markt, die in frühen Werbemedien vor dem Vergessen bewahrt werden. Weiterhin stark vertreten unter den Frühen Plakaten ist Reklame für Verlagsprodukte, Ausstellungen und Bühnenkunst, dicht gefolgt von Tourismus, Festen und Sport. Neben der Kulturgeschichte lassen sich auch historische Ereignisse und politische Tendenzen an Plakaten verfolgen, vom satirischen Kladderadatsch bis zur Propaganda im „ersten Monat deutsche Westoffensive!“.
Werbemedien um 1900 spiegeln auch die Geschichte einer von Europa und den USA ausgehenden Kolonialisierung der Welt. Im Rahmen der Digitalisierung wurden rund 350 Plakate identifiziert, die Bezüge zu kolonialen Kontexten aufweisen – von Reklame für „Kolonialwaren“ wie Kaffee, Tabak oder Gummi bis hin zu rassistischen Darstellungen weißer Europäer als Vertreter einer „Herrenrasse“. Diese Objekte werden derzeit vertieft beforscht und betextet, damit sie als separate Datensatzgruppe online zugänglich gemacht werden können, ebenfalls begleitet von einer Online-Ausstellung in der Deutschen Digitalen Bibliothek sowie einem wissenschaftlichen Text, in dem der Einfluss der frühen Werbung auf die Verbreitung und Verfestigung eines kolonialistisch geprägten, eurozentristischen Weltbilds untersucht wird.
Seit Mitte der 1890er-Jahre gehörten Beispiele zeitgenössischer Plakatkunst zum Ankaufsprogramm der Kunstbibliothek, die damals noch Teil der Lehranstalt des Kunstgewerbemuseums war. Unter den ersten verzeichneten Erwerbungen waren Werbedrucke aus Frankreich und den USA, damals international en vogue. Solches Dokumentationsglück wurde aber nicht allen Plakaten zuteil: Viele gelangten als „Beigaben“ in Sammlungen, wurden als Gruppen inventarisiert oder gar nicht erfasst, was das Ermitteln von Provenienzen heute erschwert. Das Projekt ermöglichte aber erstmals einen systematischen Abgleich mit den Erwerbungsbüchern der Kunstbibliothek, wobei sich über 1000 Zugangseinträge finden ließen, darunter die Sammlungen Arthur Wolf, Marie Rungs und Walter von zur Westen. Hiermit wird ein Beitrag zur weiteren Provenienzforschung geleistet.
Das Digitalisierungsprojekt wurde durch die Deutsche Digitale Bibliothek im Rahmen des von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) geförderten Programms Neustart Kultur ermöglicht.
Projektleitung: Dr. Christina Thomson
Sammlung: Sammlung Grafikdesign, Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin
Wissenschaftliche Bearbeitung: Dr. Christina Thomson und Christina Dembny
Team Erfassung: Kathrin Barrera Nicholson, Thomas Gladisch, Laura Hesse-Davies, Bettina Klein
Scans: Rainer Baltscheit, Dietmar Katz
Restauratorische Betreuung: Halina Fischer
Technische Umsetzung: Frank von Hagel, Helen Reich
Kooperationspartner: „De-Coding Culture“ aus dem Verbund museum4punkt0
Gefördert durch: Deutsche Digitale Bibliothek / Programm NEUSTART KULTUR der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM)
Laufzeit: 1. Mai 2021 bis 18. Februar 2022