Die vierte Route widmet sich mit kritischem Blick den Beiträgen, die einige der in unseren Sammlungen vertretenen Männer zur Gleichstellung der Geschlechter geleistet haben.
Während die Gleichberechtigung der Geschlechter in vielen Ländern zumindest gesetzlich besteht, ist sie in der Realität bislang nirgendwo erreicht worden. Seit tausenden Jahren leben wir in Gesellschaften mit patriarchalen Strukturen, in denen die Stellung des Mannes über der Frau als selbstverständlich erachtet wird. Erst seit wenigen Jahrzehnten wird die Gleichstellung der Geschlechter in vielen Ländern angestrebt. Durch das kritische Hinterfragen der über Jahrhunderte tradierten (legendären) Biografien und Bilder von Männern ist es jedoch vereinzelt möglich Taten, Gedanken und Forderungen von Männern zu entdecken, die sich bereits vergleichsweise früh gegen misogyne Verhaltensweisen gestellt haben.
Einer dieser Männer ist eine prominente aber zugleich sehr passive Figur des Christentums: Josef, der Ziehvater von Jesus. Gemäß einer apokryphen (nicht in die christliche Bibel aufgenommenen) Schrift war Joseph ein Witwer, in dessen Obhut Maria mit zwölf Jahren kam. Als er von einer langen Reise zurückkehrte, fand er die mittlerweile 16-Jährige schwanger vor. Verständlicherweise zweifelte er an ihrer Geschichte der jungfräulichen Schwangerschaft. Infolge einer göttlichen Eingebung im Traum fand er dennoch den Mut, Maria zu unterstützen und sie nicht zu verstoßen, wie es in der damaligen Zeit üblich gewesen wäre. Er stand zu ihr, als sie des vorehelichen Geschlechtsverkehrs bezichtigt wurden, unterstützte sie bei der Geburt und floh mit ihr nach Ägypten, um Jesus vor den mordenden Truppen des König Herodes zu schützen. In seiner Rolle als Ziehvater eines fremden Kindes entsprach er in keiner Weise dem Bild eines Mannes und den Konventionen der damaligen Zeit. Möglicherweise liegt gerade in seinem abweichenden Verhalten von gesellschaftlichen Normen die Erklärung für die stark zurückgenommene künstlerische Überlieferung seiner Person.
Als im 1. und 2. Jahrhundert n. Chr. die ersten christlichen Gemeinden entstanden, waren hierarchische Strukturen noch nicht fest ausgeformt. Im frühen Christentum zeigten sich interessante Bestrebungen und Tendenzen zu einer Gleichstellung von Frauen und Männern. Der paulinische Textkorpus ist bis heute eine der wichtigsten Quellen über die Rolle der Frau in dieser Zeit. Der Apostel Paulus bereiste nach Jesu Tod den östlichen Mittelmeerraum und gründete dort christliche Gemeinden, mit denen er brieflich in Kontakt blieb. Innerhalb des paulinischen Textkorpus werden die Stellung der Frau und das Verhältnis von Frau und Mann kontrovers wiedergegeben. Denn einerseits findet sich eine Gesellschaft mit patriarchalen Strukturen, die eine Stellung des Mannes über der Frau als selbstverständlich erachtet und auch nicht hinterfragt – im Gegenteil, sie sogar fordert. Andererseits wird innerhalb des Christentums eine neue, auf Gleichheit und Nächstenliebe basierende Gemeinschaftsform geschaffen, die unter anderem eine Gleichstellung der Frau fordert. Hinzu kommt, dass rund ein Viertel der im Neuen Testament genannten Mitarbeiter*innen des Paulus Frauen waren, denen selbstverständlich auch Führungspositionen zukamen. Dies zeugt von egalitären Tendenzen gegenüber Frauen, die für die damalige Zeit sehr ungewöhnlich waren.
Empfohlene Zitierweise: López-Fanjul y Díez del Corral, María (Hrsg.): Der zweite Blick: Frauen, Heidelberg: arthistoricum.net, 2021.