Die erste Route führt entlang von Darstellungen weiblicher historischer Persönlichkeiten, die aktiv die europäische Geschichte mitgeprägt haben.
In der europäischen Geschichtsschreibung wird das Wirken von Frauen bis heute kaum gewürdigt. Nicht wenige leisteten aber bedeutende Beiträge zur Entwicklung der europäischen Geschichte und wurden nicht zuletzt deshalb in Kunstwerken für die Nachwelt verewigt. Die überwiegende Mehrzahl dieser Frauen gehörte privilegierten Schichten an. Ebenso wurden die Kunstwerke, in denen sie dargestellt sind, üblicherweise von den wirtschaftlichen und sozialen Eliten in Auftrag gegeben bzw. für diese produziert. Die patriarchalen Strukturen sorgten zugleich jedoch dafür, dass die Möglichkeit für ein wirkmächtiges Handeln auf politischem oder gesellschaftlichem Gebiet auch für diese Frauen in der Regel in einer Position als Tochter, Ehefrau oder Mutter eines berühmten Mannes begründet lag. Ihre eigenen Leistungen blieben hingegen in der Kunst oft unsichtbar.
Wirtschaftliche Unabhängigkeit war (und ist) eine grundlegende Voraussetzung dafür, dass Frauen auch außerhalb der Familien über Freiheiten und Macht verfügen können. Dies zeigt sich etwa am Beispiel der Markgräfin Mathilde (um 1046–1115), die dem mächtigen Adelshaus Canossa entstammte. 1069 heiratete sie den Herzog von Niederlothringen, Gottfried „den Buckligen“ (um 1040–1076), kehrte aber nach dem frühen Tod ihres ersten Kindes ohne ihren Gatten in ihre italienische Heimat zurück. Anfangs noch gemeinsam mit ihrer Mutter, regierte Mathilde von dort aus selbstständig ihre Besitzungen. Im sogenannten Investiturstreit, einem Konflikt zwischen Papst Gregor VII. (um 1020–1085) und Kaiser Heinrich IV. (1050–1106), gewährte die Markgräfin dem Kirchenoberhaupt Zuflucht und leistete mit ihren Truppen erfolgreich Widerstand gegen jene des Kaisers. Noch mehr als ein halbes Jahrtausend später reflektierte ein von Gian Lorenzo Bernini (1598–1680) geschaffenes Marmorgrabmal im Petersdom diese heldenhafte und vor allem papsttreue Tat. Eine parallel zur Ausführung in den 1630er Jahren entstandene kleine Bronzestatuette der zentralen Figur zeigt Mathilde als entschlossene Soldatin des Stuhles Petri – eine eigentlich nur für Männer vorgesehene Rolle.
Schon bald nach dem Ableben Mathildes verloren sukzessive die meisten europäischen Frauen die Kontrolle über Mitgift oder Erbe an ihre Ehemänner. Ihre Gestaltungsmöglichkeiten verlagerten sich nun weitgehend hinter die häuslichen Mauern. In den zunehmend bürgerlich geprägten Gesellschaften wurden Ehe und Mutterschaft schließlich zu dominierenden Leitbildern. Doch selbst in diesem engen Rahmen eroberten sich manche Frauen durchaus bedeutende gesellschaftliche Positionen. Ein Paradebeispiel hierfür ist die Salonnière Juliette Récamier (1777–1849), die heute wohl als Influencerin und Trendsetterin bezeichnet würde. Die attraktive Ehefrau eines vermögenden Bankiers verstand es vorzüglich, sich öffentlichkeitswirksam zu inszenieren und zu vermarkten. Regelmäßig ließ sie sich von den berühmtesten Künstlern Frankreichs porträtieren. Wie die Joseph Chinard (1756-1813) zugeschriebene Terrakottabüste im Bode-Museum transportierten diese Kunstwerke das sorgsam gepflegte Image einer unschuldigen, reinen und geheimnisvollen Frau. Die Männer jener Zeit zog sie geradezu magisch an und diente zugleich den Frauen der Bourgeoisie als modisches Vorbild. In ihrem geschmackvoll dekorierten und sogar mehrfach in Zeitschriften vorgestellten Haus versammelte sich gleichzeitig ein von Napoleon Bonaparte höchstselbst misstrauisch beäugter Intellektuellenzirkel. Dass ihr hochpolitischer Salon Juliette Récamier schließlich sogar ins Exil trieb, wird den heutigen Betrachter*innen ihrer zahlreich erhaltenen Porträts allerdings kaum vermittelt.
Empfohlene Zitierweise: López-Fanjul y Díez del Corral, María (Hrsg.): Der zweite Blick: Frauen, Heidelberg: arthistoricum.net, 2021.