Die 1819 gegründete Berliner Gipsformerei beherbergt historische Formen und Modelle von über 7.000 Bildwerken von der Vor- und Frühgeschichte bis ins 20. Jahrhundert, die aus nahezu allen Sammlungen der Staatlichen Museen zu Berlin und aus renommierten Institutionen im In- und Ausland stammen. Nachdem dieser Bestand lange als reine Gebrauchssammlung wahrgenommen wurde, rückt heute sein historischer Wert ins Bewusstsein. 2019 ermöglichte die Ernst von Siemens Kunststiftung nun den ersten Schritt einer wissenschaftlichen und konservatorischen Erschließung dieser außergewöhnlichen Sammlung.
Historische Abgüsse geben Auskunft über die Geschichte und den Kanon unserer Museen, die politischen Austauschbeziehungen internationaler Institutionen sowie die Biografien und Transfers musealer Sammlungsobjekte. Sie sind Zeugnisse traditioneller Guss- und Formenbautechniken, und sie konservieren verlorene Werke der Kunst- und Kulturgeschichte über deren Lebenszeit hinaus. Der Fokus des Pilotprojekts liegt in diesem Sinne auf denjenigen Formen und Modellen, denen verschollene, zerstörte oder beschädigte Kunstwerke zugrunde liegen. Ein Großteil dieser Werke wurde im Zweiten Weltkrieg vernichtet oder als Kriegsbeute außer Landes gebracht; andere wurden über Jahre hinweg durch Witterungseinflüsse beeinträchtigt oder aus anderen Gründen beschädigt. Dank der historischen Abformungen, die ab dem mittleren 19. Jahrhundert im großen Stile umgesetzt wurden, haben sich zahlreiche dieser Werke in Gips erhalten und können so für die Nachwelt gesichert werden.
Mit der großzügigen Förderung der Ernst von Siemens Kunststiftung kann dieser für die Staatlichen Museen zu Berlin besonders bedeutungsvolle Teilbestand nun aufgearbeitet werden. Rund 300 Inventarnummern und damit insgesamt über 1.000 Formen und Modelle stehen im Zentrum des auf drei Jahre angelegten Forschungsprojekts, das von einem interdisziplinären Team bearbeitet wird. Mit dem Projekt wird das Fundament einer Gesamtbestandserfassung bereitet und der erste Teil eines wissenschaftlichen Bestandskatalogs vorgelegt. Dabei werden nicht nur Grundlagen für die weiterführende Erforschung verschollener Kunstwerke gelegt, sondern vor allem auch wichtige Erkenntnisse zur Geschichte der Gipsformerei, zu Technik und Handwerk historischer Abformungen und zur Bedeutung und Wertigkeit von Abgüssen im Wandel der Zeit gewonnen. Entlang der erarbeiteten Objektbiografien entstehen alternative Sammlungsgeschichten, in denen die zu unterschiedlichen Zeiten gefertigten Gussformen, Form- und Malmodelle als autonome Werke gewürdigt werden.
Zu den im Projekt untersuchten Objekten gehören Formen und Modelle nach Bildwerken aus der Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst, der Antikensammlung, der Nationalgalerie, dem Ägyptischen Museum und Papyrussammlung, dem Museum für Vor- und Frühgeschichte, dem Ethnologischen Museum, dem Museum für Asiatische Kunst der Staatlichen Museen zu Berlin sowie aus externen Museumssammlungen. Aufgrund der Heterogenität der Sammelgebiete und Objektarten bildet das Projekt einen Querschnitt durch den Gesamtbestand der Gipsformerei. Denn von Verlusten und Beschädigungen betroffen sind ebenso berühmte Portraitbüsten der Renaissance, klassizistische Statuetten oder griechische Kleinplastik wie auch englische Plaketten, altägyptisches Gerät, attische Weihreliefs, byzantinische Lampen, javanische Buddhaköpfe, aztekische Kalendersteine oder trojanische Altertümer – um nur einige Beispiele zu nennen.
Gefördert von der Ernst von Siemens Kunststiftung
Interdisziplinäres Team: Dr. Veronika Tocha (wissenschaftliche Projektleitung), Thomas Schelper (Projektkoordinator Gipsformerei), Rainer Palau (Projektmitarbeiter Gipsformerei), Aurelia Badde, M.A. (freiberufliche Restauratorin)
Laufzeit: Juni 2020 bis Mai 2023